Politik | Demokratie wird in Sitten neu gedacht
«Für uns, unsere Kinder und Enkelkinder»
Um die Bevölkerung wieder vermehrt für politische Prozesse begeistern zu können, soll sie aktiv daran teilnehmen – unabhängig von allfälligem Vorwissen. In Sitten wurde eine weitere Phase des Projekts «demoscan» unter der Leitung von Professor Nenad Stojanović vorgestellt. Ein demokratiepolitisches Experiment von nationaler Ausstrahlung.
Wer hat sich im Vorfeld von Abstimmungen nicht auch schon durch schwer verständliche Abstimmungsbüchlein in Beamtendeutsch gekämpft und die Unterlagen schliesslich doch ins Altpapier geworfen? Die teils hochkomplexen Vorlagen können abschreckend wirken; die Stimmbeteiligung sinkt konstant.
Diesem Problem möchte Nenad Stojanovic entgegenwirken. Der Professor der Universität Genf ist Leiter des Projekts «demoscan», das seit Herbst 2019 in Sitten läuft. Um das Verständnis über Abstimmungsvorlagen zu verbessern, sollen genau jene Personen darüber informieren, die auch entscheiden müssen: Die Bürger.
Von Bürgern für Bürger
Das Projekt «demoscan» sieht vor, dass ein 20-köpfiges Gremium, das in seiner Zusammenstellung den demografischen Eigenheiten der Gemeinde so gut wie möglich entspricht, ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger informiert. Im Falle des Sittener Pilotprojekts beschäftigte sich das Gremium mit der Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen», über welche am 9. Februar abgestimmt wird.
Das Gremium hörte sich während vier Tagen die Argumente von Befürwortern und Gegnern der Initiative an, befragte Fachleute und debattierte. Entstanden ist ein «Bürgerbericht» mit einem Umfang von einer A4-Seite, aufgearbeitet in der eigenen Sprache der ausgelosten Bürger. Auf der Vorderseite gibt es eine Zusammenfassung der Fakten in acht Punkten. Auf der Rückseite haben die 20 Bürgerinnen und Bürger die Pro- und Kontra-Argumente zusammengetragen. Dieses wird ab nächster Woche an alle Haushalte der Gemeinde versendet – «begleitend zum Abstimmungsbüchlein, es soll keine Konkurrenz sein», sagt Stojanović.
«Unsere Demokratie ist krank»
An der Pressekonferenz vom Donnerstagmorgen in Sitten hielten sich Projektleiter Stojanović und Stadtpräsident Philippe Varone bewusst zurück, wollten das Wort primär drei Mitgliedern des Projekts überlassen. «Menschlich war es ein wunderbares und zugleich ein lehrreiches Abenteuer», sagte etwa Vera Banjas. Auch Ismaël Grosjean zeigte sich begeistert über die Erfahrung: «Wir haben viel über den demokratischen Prozess gelernt», sagte er, «im Gegensatz zu den Argumenten in den Medien, die oft parteiische Positionen präsentieren, bietet unser Bericht eine zusammenfassende und ausgewogene Sichtweise.»
«Unsere Demokratie ist krank», sagte Werner Schneider, der älteste des Trios. Nur noch knapp die Hälfte der Bevölkerung würde an Abstimmungen teilnehmen, sagte er, «das betrübt mich.» Deshalb müsse das Beispiel Schule machen und sich im ganzen Land verbreiten, «für uns, für unsere Kinder und Enkelkinder.»
Ergebnisse im Frühjahr
Das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und der Stadt Sitten unterstützte Projekt Demoscan wurde von Professor Stojanović lanciert. Als Modell dienten ihm Oregon und andere US-Bundesstaaten, wo vor Volksabstimmungen entsprechende Bürgerberichte erstellt werden.
Der nächste Schritt der Studie ist eine stichprobenartige Umfrage unter 2500 Bürgern. Sie werden unter anderem befragt, ob sie den Bürgerbericht verständlich und nützlich fanden und ob er ihre Teilnahme an der Abstimmung und ihre endgültige Entscheidung beeinflusst hat. Die Ergebnisse der Studie werden im kommenden Frühjahr erwartet.
awo/sda
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