Frontal | Heinrich Rieder, Maskenschnitzer

«Der Respekt gegenüber den Tschäggättä geht verloren»

Heinrich Rieder: «Das Brauchtum ist für unser Tal Gold wert.»
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Heinrich Rieder: «Das Brauchtum ist für unser Tal Gold wert.»
Foto: RZ

Heinrich Rieder beim Schnitzen in der Blauen Stube.
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Heinrich Rieder beim Schnitzen in der Blauen Stube.
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Quelle: RZ 0

Er lebt für das Brauchtum der Tschäggättä mit Herz und Seele. Heinrich Rieder (55) ist passionierter Schnitzer und will mit seiner Dauerausstellung das Brauchtum für die Nachwelt erhalten.

Heinrich Rieder, vor vier Jahren haben Sie die «Blaue Stube» eröffnet. Was steckt dahinter?
Eigentlich wollte ich ein Museum machen. Aber aus finanziellen Überlegungen musste ich die Idee zurückstellen. So bin ich auf dieses alte Gebäude gekommen, das der Gemeinde Wiler gehört. Hier habe ich eine Erlebniswelt rund um die Lötschentaler Fasnacht eingerichtet. Besucher können selbst Hand anlegen, eine Larve schnitzen und bemalen oder ein Tschäggättu-Kostüm anziehen. Zudem kann man auf alten Fotografien und Materialien sehen, wie man im Lötschental früher «gefasnachtet» hat. Und natürlich findet man auch Masken in der Ausstellung.

Warum ist es Ihnen und Ihrer Familie so wichtig, das alte Brauchtum zu bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
Einerseits haben wir sehr viel Material wie Masken, Bilder und Gegenstände, die wir aufbewahren. Andererseits haben wir uns dem Brauchtum verschrieben und haben eine grosse Passion für das Tschäggättu. Schon meine Eltern waren eng mit dieser Tradition verbunden. Heute sind es vor allem mein Bruder Andreas und meine Familie, die sich für das Brauchtum interessieren. Das ist tief in uns verwurzelt und schwer zu erklären.

Bald beginnt die Lötschentaler Fasnacht. Spüren Sie schon ein Kribbeln…
(lacht) Natürlich ist es speziell. Ich freue mich, zusammen mit meinen Kollegen diesen wunderschönen Brauch wieder auszuüben. Aber das Tschäggättu an sich ist für mich das ganze Jahr präsent.

Inwiefern?
Das zeigt sich daran, dass ich das ganze Jahr über auf der Suche nach Sachen oder Gegenständen bin, die ich für eine Maske oder ein Kostüm verwenden kann. Das geht so weit, dass mich meine Frau beispielsweise auf einer Wanderung ermahnt, ich solle dieses oder jenes liegen lassen und nicht immer ans Tschäggättu denken. Das hält mich allerdings nicht davon ab, die besagten Gegenstände später dann doch zu holen (grinst).

Sie führen nicht nur die «Blaue Stube», sondern haben auch einen Maskenkeller, den Ihre Eltern ins Leben gerufen haben. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die vielen Hundert Larven mit den verschiedenen Ausdrucks formen sehen?
Es ist für mich immer wieder eine Entdeckungsreise, wenn ich mich im Maskenkeller um sehe. Wir haben viele alte, traditionelle Larven, aber auch viele Masken aus der Neuzeit. Die alten Larven sind eher zweidimensional gehalten und primitiv geschnitzt, während die neueren Masken die Handschrift von irgendwelchen Bildern oder Vorgaben im Netz tragen.

Mit anderen Worten: Der Kreativität für eine Larve sind keine Grenzen gesetzt…
Das ist das Schöne an diesem Handwerk. Ich habe erst kürzlich mit einem Schnitzer aus der Deutschschweiz gesprochen, der uns darum beneidet, dass wir bei der Herstellung der Masken so viele Freiheiten haben. Jeder kann machen, was er will, ohne die Tradition zu verletzen. Ich bin erstaunt, wie viele junge Schnitzer wunderschöne Masken herstellen. Auch bei den Kostümen gibt es keine klaren Spielregeln.

Die Masken sind sehr starr und unbeweglich, und doch wirken sie lebendig und haben eine enorme Ausstrahlungskraft. Warum sind die Besucher davon so fasziniert?
Eine Maske hat etwas Geheimnisvolles und Mystisches. Jede Maske ist anders im Ausdruck und man kann alles und nichts hineininter pretieren. Es ist auch eine Art Kunst, einer Maske einen Ausdruck zu verleihen, der den Betrachter in seinen Bann zieht.

Inwiefern unterscheidet sich Ihr Schnitzstil von demjenigen Ihrer Eltern?
Mein Vater hat eher sogenannte Standardmasken hergestellt, während meine Mutter eine richtige Künstlerin war. Sie hat alle Ideen im Kopf gehabt und ohne Bilder oder Skizzen sehr schnell geschnitzt. Sie hat sich ihren Stil über ihre Kreativität angeeignet. Das ist eine grosse Begabung. Ich hingegen arbeite teils mit einer Vorlage, das heisst, wenn ich ein Motiv oder ein Bild im Netz sehe, dann versuche ich, dieses Motiv zu schnitzen. Ich lasse bei der Arbeit zwar meine Kreativität einfliessen, aber die eigentliche Idee stammt nicht von mir.

Eine schöne Maske allein reicht nicht aus. Was braucht es, damit eine Tschäggätta Ihren Vorstellungen entspricht?
Das ist wie bei einer Maske. Es braucht Ideen, und die muss man umsetzen. Nicht nur das Aussehen ist wichtig, auch die Bewegungen machen eine Tschäggätta aus. Aber auch hier gilt: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Was einem gefällt, ist für den anderen ein Tabu. Eine perfekte, wuchtige Tschäggätta sieht sicher schön aus, aber auch eine lumpenhafte, alte Tschäggätta kann durchaus ihren Reiz haben.

Ende der 1980er-Jahre wurde das Brauchtum im Tal auf den Kopf gestellt. Waren bis dahin die Tschäggättä nur tagsüber unterwegs, haben die Jugendlichen gegen den Willen der politischen Behörden einen Protestmarsch durchgeführt, um dem Brauchtum auch abends und in der Nacht zu frönen. War dieser Aufstand wichtig, um das Brauchtum in die Neuzeit zu retten?
Es war wichtig zu zeigen, wie sehr der Brauch den Jugendlichen am Herzen liegt. Darum hat man diesen Protestmarsch durchgeführt. Der Grund lag darin, dass in dieser Zeit das Tschäggättu tagsüber praktisch nicht mehr ausgeführt wurde. Das heisst, der Brauch war kurz vor dem Erliegen. Hätten die Behörden damals ein striktes Nachtverbot ausgesprochen, wäre das Brauchtum wohl eingegangen. So aber hat sich das Tschäggättu in einer anderen Form in die Neuzeit gerettet.

Heute, knapp 30 Jahre später, ist der sogenannte Tschäggättu-Loif das grösste touristische Ereignis im Tal. Dabei laufen nicht nur einheimische Männer mit, sondern auch Auswärtige sowie Frauen und Kinder. Wie stehen Sie dazu?
Der Umzug an sich ist für mich eine reine Kommerzveranstaltung. Viele Männer, Frauen und Kinder laufen als Tschäggättä verkleidet durchs Tal und die Vereine bereichern sich daran. Das stört mich enorm. Zudem hat der Umzug mit dem eigentlichen Brauchtum nichts zu tun. Genauso wenig, wie wenn eine Tschäggätta von Beiz zu Beiz geht. Trotzdem muss man sagen, dass der Anlass für die Zuschauer einmalig ist. So viele Tschäggättä vor so einer einmaligen Kulisse zu sehen – das gibt es sonst nirgends.

Sie sprechen es an: Der Ursprung des Brauchtums steht im Spagat zur touristischen Entwicklung des Tals. Waren die Tschäggättä früher eher grob und haben ihre vermeintlichen Opfer mit Russ und Asche beschmiert, ist es heute mehr ein touristisches Schau laufen. Bedauern Sie diese Entwicklung?
Man muss aufpassen, dass sich das Brauchtum nicht zu sehr in eine falsche Richtung entwickelt. Natürlich ist der Tourismus heute nicht mehr wegzudenken. Dazu gehören auch die vielen Gäste, die gerade während der Fasnachtszeit ins Lötschental kommen. Aber das Tschäggättu hatte ursprünglich keinen touristischen Hintergrund, sondern hat den Einheimischen dazu gedient, aus ihrem Alltag auszubrechen und sich aus zutoben. Das geht heute ein bisschen verloren.

Wie können die Tschäggättä ihre Echtheit bewahren, ohne die Regeln der Neuzeit zu verletzen?
Das ist schwierig. Einerseits wollen die Touristen und Einheimischen, dass das Brauchtum möglichst authentisch wiedergegeben wird, und die Tschäggättä sie auch mal härter anpacken. Andererseits soll eine Tschäggätta nur als Fotosujet herhalten. Hier einen guten Mittelweg zu finden, ist nicht einfach. Viele Gäste und Einheimische sind zwar tolerant, wenn sie von einer Tschäggättä angegriffen werden. Aber der Respekt gegenüber dem Brauchtum geht schon ein bisschen verloren.

Das Tschäggättu ist weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Wie wichtig ist das Brauchtum für das Lötschental?
Dieser Brauch ist für unser Tal Gold wert. Allein in der Vergangenheit sind sehr viele Besucher wegen der Tschäggättä ins Tal gekommen. Es ist ein faszinierender Brauch, der eine unheimliche Anziehungskraft ausübt. Das stelle ich auch immer wieder fest, wenn ich im In- oder Ausland als Werbeträger unterwegs bin. Diese Art von Werbung ist unbezahlbar. Darum habe ich Mühe damit, wenn es Stimmen gibt, die sagen, dass man das Brauchtum nicht in alle Welt hinaustragen sollte. Gerade heute, wo viele Tourismusorte alle Register ziehen, um Gäste anzulocken, ist es sehr wichtig, dass man das Brauchtum promotet. Sicher muss man nicht an jeder Veranstaltung als Tschäggätta auflaufen, aber wenn ein grosser Player ruft, ist es wichtig, unser Brauchtum auch ausserhalb des Tals zur Schau zu stellen.

Walter Bellwald

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Infos

Vorname Heinrich
Name Rieder
Geburtsdatum 20. Juli 1965
Familie verheiratet, zwei Söhne
Beruf Schreiner
Funktion Gemeindeangestellter
Hobbies Velo fahren
Ich werde dieses Jahr auch als Tschäggätta unterwegs sein. Ja
Meine Tragmasken sind unverkäuflich. Joker
Das Brauchtum wird ausserhalb des Tals zu sehr zur Schau gestellt. Nein
Der Joker darf nur einmal gezogen werden.  

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