Brig-Glis | Jean-Pierre D'Alpaos, Kulturkämpfer
«Die 68er-Jahre waren eine kulturelle Revolution»
Er ist ein Kind der 1960er-Jahre und hat die 68er-Zeit miterlebt. Kulturkämpfer Jean-Pierre D’Alpaos (62) über seine kulturelle Inspiration dieser Zeit und die «Flowerpower-Generation».
Jean-Pierre D’Alpaos, Sie bezeichnen sich als Kind der 68er-Generation, obwohl Sie damals erst zwölf Jahre alt waren?
Die 68er-Zeit hat mich sehr geprägt. Vor allem die musikalischen Einflüsse dieser Zeit waren enorm. Das hat schon früher angefangen mit den Beatles, die Anfang der 1960er-Jahre diese Aufbruchstimmung in ihren Songs, ihrem Verhalten und ihrem Benehmen verkörpert haben. Diese Musik widerspiegelt die Freiheit, die Liebe, das Fröhliche und Unbeschwerte. Ohne die Beatles hätte es die 68er-Bewegung nicht gegeben. Die Beatles haben eine friedliche Revolution entfacht und alle Jugendlichen damit erfasst.
Wie kaum eine andere Jahrzahl steht 1968 für gesellschaftliche Auf- und Umbrüche. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?
Die Ereignisse in Deutschland haben mich brennend interessiert. Vor allem das liberale Gedankengut hat mir imponiert, sicher nicht zuletzt deshalb, weil ich die kirchlichen und staatlichen Dogmen und Vorgaben immer als beengend und repressiv angesehen habe. Ich hatte ein sehr liberales Elternhaus und meine Eltern waren damals schon sehr emanzipiert, ohne dass sie wussten, was das eigentlich heisst. Meine Eltern haben mich in meinen Ideen immer unterstützt und das gab mir auch eine gewisse Sicherheit in meinem Tun. Mein Vater gab mir den Ratschlag mit auf den Weg, immer neugierig zu bleiben. Das habe ich bis heute beherzigt.
Die Bewegung der 68er lebte massgeblich von ihren Vorbildern in Deutschland, Frankreich, Italien oder den USA. Warum war es damals in, gegen alles und jenes zu rebellieren und zu protestieren?
Die 68er-Bewegung wollte ihre Freiheit propagieren. Und viele Jugendliche wollten dazugehören. Was mir imponierte, war dieses Unbeschwerte, Fröhliche, der positive Geist. Obwohl ich keinem Idol nachgeeifert habe. Auch die Solidarität unter den Jugendlichen war gross. Das hat mir Eindruck gemacht.
Wie war das Echo unter Ihresgleichen?
Schlecht. Als ich in den 1970er-Jahren mit Jeans und langen Haaren auch vom Outfit her dem Slogan «Peace, Love and Rock ’n’ Roll» nacheifern wollte, erntete ich oft nur ein Kopfschütteln oder ein müdes Lächeln. Ich glaube, die meisten haben gar nicht begriffen, was ich eigentlich repräsentieren wollte. Ich wollte eine bessere Welt. Auch die Musik der Beatles war ihnen fremd. Insofern war ich im eigentlichen Sinne ein «Aussenseiter», was mich aber nicht weiter gestört hat.
Wie haben Sie sich über diese neue Bewegung informiert?
Im Radio und im Fernsehen. Aber die modischen Trends und die Berichte über die Beatles habe ich der Jugendzeitschrift «Bravo» entnommen. Meine älteren Schwestern haben damals an einem Kiosk gearbeitet und haben mir immer die «Bravo» nach Hause gebracht. Ich habe auch Musiksendungen mit einem Tonband mitgeschnitten und die Lieder, die mir gefallen haben, aufgenommen. Das war meine Welt und die Musik der Beatles war die Stimme der Jugend.
Eigentliche Studentenproteste fanden vor allem in der Deutschschweiz statt. Hat sich auch eine 68er-Bewegung im Oberwallis manifestiert?
Es war natürlich nicht ganz einfach, die 68er-Bewegung in die Provinz, sprich ins Oberwallis, zu holen. Nichtsdestotrotz gab es einige kreative Oberwalliser Köpfe, die sich gewisse Freiheiten nahmen und ihren Idolen nachgeeifert haben. Ich denke da an Adam Wyden, der in Zürich eine WG gegründet hat. Auch lange Haare waren eine Lebensphilosophie und ein Wiedererkennungszeichen dieser Generation. Anzug und Krawatte waren verpönt. Man wollte dazugehören, anders sein und sich gegen das festgefahrene Establishment auflehnen.
Waren Sie immer schon der Rebell, der Provokateur?
Ich war eher ein sanfter pazifistischer Anarchist. Ich wollte nicht bewusst provozieren, das heisst ich wollte niemandem etwas aufzwingen. Alles Bürgerliche galt als veraltet und nicht nachahmenswert. Wir wollten anders sein, offener. Und die konservativen Weltbürger wollten uns diese Freiheit verwehren. Dagegen haben wir uns zur Wehr gesetzt, wenn auch nicht handgreiflich.
Obwohl sich die Schweizer 68er-Bewegung an ausländischen Vorbildern orientierte, griff sie doch auch einige typische schweizerische Themen auf, etwa die Stellung der Armee oder die Gastarbeiterfrage. War von dieser Protest-Bewegung im Oberwallis etwas spürbar?
Natürlich war auch die politische Debatte gegenwärtig. Vor allem der Vietnamkrieg hat auch hierzulande viele Jugendliche aufgewühlt. Innenpolitisch hat die 68er-Bewegung die Menschen dazu angehalten, liberaler und emanzipierter aufzutreten. Denken wir an das Frauenstimmrecht, das 1971 in der Schweiz eingeführt wurde. Oder die Schwarzenbach-Initiative, die Ende der 1960er-Jahre beabsichtigte, italienische Gastarbeiter auszuweisen. Davon wäre unsere Familie direkt betroffen gewesen. Glücklicherweise wurde diese Initiative klar verworfen.
Haben Sie selber auch mal an einem Protest teilgenommen?
Ich bin 1981 nach Zürich gereist, um beim Protestmarsch für das autonome Jugendzentrum mitzumarschieren. Als ich die Einsatzkräfte der Polizei in ihren Kampfanzügen gesehen habe, bekam ich es mit der Angst zu tun und habe den Rückweg angetreten. Drei Jahre später war ich wieder in Zürich und habe drei Strassenmusikanten zugehört. Als plötzlich die Polizei aufmarschierte, um die Strasse zu räumen, habe ich mich verbal mit ihnen angelegt, weil ich nicht nachvollziehen konnte, warum man junge Leute, die friedlich musizieren, von der Strasse weghaben wollte. Schliesslich haben die Polizisten klein beigegeben und sind abmarschiert. (lacht)
Neben vielen positiven Errungenschaften wie Emanzipation, Kinderläden oder freie Liebe haben die 68er auch negative Spuren hinterlassen. Ich denke an Drogenexperimente und den RAF-Terrorismus…
Dass sich im Nachgang der 68er-Bewegung terroristische Zellen gegründet haben, ist mitunter auch dem repressiven Auftreten von Politik und Polizei zuzuschreiben. Auch Drogenkonsum kann ich nichts abgewinnen. Ich habe noch nie Drogen konsumiert und auch keinen Alkohol getrunken. Das habe ich bis heute beibehalten. Ein aufgeklärter Mensch nimmt keine Drogen. Ich brauche keine stimulierenden Substanzen ausser der Musik. Musik und Kultur sind meine Drogen.
Mancher aufbegehrende Jugendliche verlor sich auf dem Irrweg des Linksterrorismus. Die Rote Armee Fraktion (RAF) beispielsweise hielt ganz Deutschland in den 70er-Jahren in Atem…
Die RAF ist eine Geschichte für sich. Andreas Baader war für mich ein Krimineller. Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe dagegen haben für die Sache gekämpft. Solche Köpfe und Rudi Dutschke (deutscher Studentenführer, Anm. d. Red.) fehlen heute in der deutschen Politik. Dass die Aktionen der RAF mit terroristischen Übergriffen einhergingen, ist selbstverständlich zu verurteilen. Ich bin gegen jegliche Gewalt. Aber im Kern der Sache waren die Anliegen der RAF nicht schlecht. Sie stand für Veränderung und Neubeginn.
Auch musikalisch haben die späten 60er-Jahre eine ganze Generation geprägt. Rock war auf einmal nicht mehr verpönt und gesellschaftsfähig. Hat Sie diese Zeit auch musikalisch geprägt?
Die 68er waren auch eine kulturelle Revolution. Ich wäre kulturell nie so weit gekommen, wenn es die Musik der Beatles nicht gegeben hätte. Das war der Anfang meines kulturellen Schaffens. Später sind auch noch Film, Literatur und Fotografie dazugekommen.
Was ist Ihnen heute, fast 50 Jahre später, von der Aufbruchstimmung der 68er geblieben?
Die Emanzipation und die soziale Entwicklung. Aber auch der kulturelle und politische Wandel ist auf diese Zeit zurückzuführen. Das hat alles seinen Ursprung in den 68er-Jahren. Ich habe Heilpädagogik studiert. In den 1970er-Jahren gab es praktisch keine Praktikumsstellen in dieser Richtung. Heute sind Berufe mit sozial-pädagogischer Ausrichtung stark gefragt. Das Humane und Liberale hat sich über die Jahre entwickelt und an Stellenwert gewonnen. Auch auf der kulturellen Ebene bleibt sehr viel. Ich denke an die musikalischen Errungenschaften und die Kunst.
Wie reagieren Sie darauf, wenn die 68er-Bewegung als Polter-Generation abgetan wird?
Ich diskutiere gerne über diese Zeit. Allerdings kann ich es nicht ausstehen, wenn man uns vorwirft, dass aus dieser Zeit nichts geblieben ist. Ohne die 1968er-Bewegung würden die Frauen von heute vielleicht noch «keine Hosen» tragen. Im wörtlichen Sinne. Und auch die Pädagogik und Psychiatrie hat dank dieser Bewegung grosse Fortschritte gemacht. Körperlich und geistig behinderte Menschen, die bis in die 1970er-Jahre eingesperrt wurden, wurden auf einmal in die Gesellschaft integriert. Und auch das Thema Rassismus wurde diskutiert.
Trauern Sie diesen Zeiten nach?
Die 1968er waren eine friedliche und fröhliche Revolte und ich möchte die positiven Überbleibsel in die Neuzeit retten. Ich glaube, auch heute müsste es eine ähnliche Bewegung geben. Nicht zuletzt deshalb, um gegen die ausländerfeindliche Stimmung, die von rechten politischen Kreisen geschürt wird, anzugehen. Le Pen, Wilder, Salvini, Orban, Netanjahu, Steve Bannon oder Sebastian Kurz müssen eine laute Gegenstimme erhalten. Die Solidarität geht aber nicht nur auf politischer oder nationaler Bühne verloren, sondern auch im kleinen Kreis. Jeder schaut nur für sich und lässt die anderen links liegen. Unsere Gesellschaft muss wieder lernen, miteinander zu leben und das Gute zu verwirklichen. Nur über Kultur werden wir Frieden erreichen.
Walter Bellwald
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