Interview | Sexualtherapeutin Anke Schüffler
«Sexualität hört nicht beim Eintritt ins Spital auf»
Vorfälle wie der sexuelle Übergriff eines Pflegers auf eine demente Frau im Altersheim von Brig-Glis schockieren. Allerdings sind solche Übergriffe die Ausnahme. Denn «in den meisten Fällen von sexueller Belästigung und Übergriffen im Pflegebereich sind die Pflegenden die Opfer», sagt Sexualtherapeutin Anke Schüffler, selbst Pflegefachfrau.
Anke Schüffler, Sie sagen, dass gerade das Pflegepersonal, egal ob im Spital, Altersheim oder in der ambulanten Pflegeeinrichtung, besonders gefährdet ist, Opfer von sexueller Belästigung oder gar Übergriffen zu werden. Was sind die Gründe dafür?
Studien haben ergeben, dass über zwei Drittel der Frauen, die im Pflegebereich arbeiten, solche Erfahrungen gemacht haben. Dieser Wert liegt deutlich über jenem, von dem man für die Gesamtheit der Frauen in der Schweiz ausgeht, obwohl die Zahlen variieren können.
Wie kommt das?
Pflegen heisst berühren und sich berühren lassen, bedeutet nah, nicht aber distanzlos zu sein. Eine Berührung oder eine tröstende Geste, etwa bei der Körperpflege, kann manchmal missverstanden werden. Es verlangt Fingerspitzengefühl, die feinen Nuancen verschiedener Berührungen zu beachten und die fast unmerklichen Unterschiede zwischen Zärtlichkeit, Hilfestellung und Hilfsbedürftigkeit zu erkennen. Bei der täglichen Arbeit werden Pflegende mit Äusserungsformen von Sexualität konfrontiert, die persönliche Grenzen überschreiten und sogar verletzen. Das macht Abgrenzungsbemühungen erforderlich. Die körperliche Nähe wird leider häufig missverstanden und zum Anlass für ungebührendes Verhalten genommen. Dabei spielen auch sexuelle Fantasien, die von der Porno-Industrie kultiviert werden, eine gewisse Rolle. Die «sexy Krankenschwester», die zu allem bereit ist, ist weit verbreitetes Klischee.
Welche Formen von sexueller Belästigung und Übergriffen kommen in der Pflege besonders häufig vor?
Das Meiste sind anzügliche, sexualisierte Bemerkungen, abwertende und aufdringliche Blicke und Gesten. Dazu kommen: unerwünschter Körperkontakt und Annäherungsversuche.
Welche Auswirkungen hat dies auf das Pflegepersonal?
Was als Grenzüberschreitung angesehen wird, ist manchmal von Person zu Person unterschiedlich. Die eine Pflegefachfrau kann zum Beispiel mit Kommentaren zu ihrem Äusseren besser umgehen, während eine andere durch solche Aussagen massiv in ihrem seelischen Gleichgewicht beeinträchtigt werden kann. Für die Betroffenen können sexuelle Belästigungen schwerwiegende Folgen haben. Gefühle der Verunsicherung, Entwürdigung, Wut und Ohnmacht entstehen, aber auch gesundheitliche Probleme wie Kopf- oder Magenschmerzen, Schlafstörungen bis hin zum Burnout und Depressionen. In meinen Vorträgen berichten viele Pflegende von Vorfällen. Viele reden dann das erste Mal über ihr Erlebtes. Ein Beispiel: In einer Spitexbetreuung griff ein Patient während der Körperpflege einer Pflegenden zwischen die Beine, diese reagierte im Affekt und gab ihm eine Ohrfeige. Ein halbes Jahr war sie danach krankgeschrieben, weil sie Selbstzweifel plagten und sie Angst vor erneuten Übergriffen hatte. Zwei Jahre redete sie mit niemandem darüber und hatte Angst, ihre Stelle zu verlieren, obwohl sie auf der anderen Seite Angst hatte, wieder zu arbeiten. Bei einem anderen Vortrag kam eine Pflegefachfrau, welche seit 30 Jahren berufstätig war, zu mir und erzählte mir von einem Vorfall, der sich während ihrer Ausbildung ereignet hatte. Ein Patient von ihr bekam damals eine Erektion während der Körperpflege. Im Anschluss an die Körperpflege gab er ihr 50 Franken. Ihre Frage an mich war: Wofür war das damals gemeint? Sie war also auch 30 Jahre nach dem Vorfall noch verunsichert.
Und welche Auswirkungen haben Übergriffe auf die Unternehmen?
Für die Unternehmen hat sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erhebliche negative Konsequenzen. Arbeitsleistung und Motivation leiden und Ausfälle aufgrund sexueller Belästigungen sind ein immenser Kostenfaktor. Es ist bekannt, dass es gerade im Pflegebereich an Personal mangelt. Wenn dann ausgebildete Fachkräfte oder auch schon Auszubildende aufgrund solcher Vorkommnisse ausfallen oder den Beruf aufgeben, dann entschärft das die Situation nicht gerade.
Sie geben Seminare für das Pflegepersonal, wie es mit solchen Situationen umgehen kann. Was raten Sie dabei in erster Linie?
Mit Unternehmen entwickle ich vor allem Leitbilder und Richtlinien für den Umgang mit Sexualität. Das wichtigste Mittel, um sexuellen Übergriffen vorzubeugen, ist das selbstbewusste Auftreten und eine ganz klare Sprache, wie das «Nein» und «Stopp». Es geht auch darum, dem Patienten unmissverständlich klar zu machen, dass man als Pflegefachkraft nicht für die Befriedigung von sexuellen Bedürfnissen zuständig ist. Schliesslich verlangt man ja auch nicht von seiner Bankangestellten, dass sie einem eine Pizza macht, weil man gerade Hunger hat. Zusammen mit den Pflegenden reflektieren wir sexualisierte Situationen und geschlechterspezifische Besonderheiten. Dabei zeige ich verschiedene Verhaltens-, Handlungs-, Lösungs- und Abgrenzungsmöglichkeiten auf, um ein souveränes Auftreten zu erlangen. Die Pflegenden lernen, Grenzen zu ziehen zwischen persönlicher und professioneller Toleranz, dies in Abhängigkeit von situativen Bedingungen. Ich vermittle Wissen über Sexualität, auch über die sexuelle Entwicklung im Alter, und fördere das Verständnis für die sexuellen Bedürfnisse von Patienten und Betagten.
Was heisst das?
Ein Beispiel: Eine Erektion muss nicht immer einen sexuellen Hintergrund haben. Sie kann zum Beispiel auch durch eine volle Blase hervorgerufen werden. Es ist wichtig, das Pflegepersonal dahin gehend zu schulen und zu sensibilisieren, die Situation adäquat zu beurteilen. Die männliche Erektion ist offensichtlich, die erigierten Brustwarzen einer Frau nimmt man jedoch weniger wahr, obwohl natürlich auch Frauen sexuell erregt werden können und dann Grenzen überschreiten. Eine frühere Kollegin von mir wurde von einer Patientin richtiggehend zu sich rangezogen und geküsst. Dann ist es auch wichtig, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass
Patienten oder Altersheimbewohner ihre Sexualität nicht an der Eingangstür abgeben und dass alle Patienten sexuelle Wesen sind.
Das müssen Sie genauer erklären.
Sexualität ist ein Grundbedürfnis in jedem Alter, und das hört nicht beim Eintritt ins Spital oder Altenheim auf. Viele denken jedoch, dass Erotik und der Wunsch nach Sexualität sich im Alter verflüchtigen. Doch häufig ist das Gegenteil der Fall und Menschen sehnen sich nach körperlicher Nähe und Berührung. Manchmal entwickeln sich sogar neue Partnerschaften.
Und was heisst das für die Praxis?
Stellen Sie sich vor, sie liegen für fünf Wochen im Spital. Es ist normal, dass Sie sexuelle Bedürfnisse haben und sich vielleicht auch mal gerne berühren. Eine Pflegeeinrichtung sollte daher die Privatsphäre schützen. Klopfen und ein wenig warten, bevor die Tür aufgemacht wird, oder auch Schilder mit «Bitte nicht stören» wären toll. Denn je weniger sexuelle Spannung bei einem Patienten, desto geringer das Risiko, dass es zu Belästigungen oder Übergriffen kommt. In Dänemark zum Beispiel bieten Altenheime ihren Bewohnern die Möglichkeit, sich entsprechende Filme oder Hefte auszuleihen. So konnte die Dosis der Schlafmedikation, die früher verteilt wurde, um ein Vielfaches reduziert werden. Manche Altenheime bieten sogar die Möglichkeit, Sexualbegleiterinnen zu kontaktieren. Sexualität ausleben zu können steigert Lebensqualität, Freude und kann sogar Krankheiten vorbeugen. Dabei sollte man wiederum im Auge behalten, dass die Infektionsgefahr mit Geschlechtskrankheiten in Altenheimen aufgrund von Potenzmitteln zugenommen hat. Schon deshalb ist es wichtig, mit Patienten zu reden und diese zu informieren.
Was raten Sie den Institutionen daher?
Pflegeeinrichtungen rate ich, mit dem Thema Sexualität besonders sensibel umzugehen und nicht totzuschweigen. Ein offener Umgang mit Sexualität, Hormonen, Libido und so weiter kann vielem vorbeugen. Wichtig ist es, Patienten daraufhin gezielt anzusprechen und ihnen auch das Recht auf Sexualität einzuräumen. Gleichzeitig müssen sich die Institutionen um den Schutz der persönlichen Integrität der Mitarbeiter kümmern. Arbeitgeber und Unternehmen sind verpflichtet, sowohl Angestellte als auch Betreuende zu schützen. Daher sollten sie Schutz- und Präventionskonzepte sowie Leitlinien für den Umgang mit Sexualität entwickeln. Ganz wichtig ist es, eine Kultur zu schaffen, in der das Thema Sexualität Platz hat. Denn das Personal stellt die grösste Ressource eines Unternehmens dar.
Martin Meul
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Kommentare
Markus Imbodu, Visp - ↑11↓5
Das Sexualität nur im Altersheim ein Tabu sein soll, halte ich für eine gewagte Aussage. Das Thema Erotik geniesst zwar in Medien, Werbung, Internet etc... einen unglaublich grossen Stellenwert aber im Alltag? Auch im Oberwallis definieren sich viele über Arbeit & den Konsum - da bleibt wenig für andere (wichtige) Themen...
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