Törbel | Frontalinterview mit Marco Seematter
«Wir wollen die Leute für unsere Anliegen sensibilisieren»
Er sitzt seit 24 Jahren im Rollstuhl und ist Präsident des Rollstuhlclubs Oberwallis. Marco Seematter (41) über seine Behinderung und die Probleme mit Behindertenparkplätzen
Marco Seematter, Sie sind seit einem Jahr Präsident des Rollstuhlclubs Oberwallis. Was sind Ihre primären Anliegen?
Wir haben im Rollstuhlclub Oberwallis einen sehr guten Zusammenhalt und organisieren während dem Jahr viele kulturelle und sportliche Anlässe. Es geht auch darum, mal unter seinesgleichen einen Anlass zu organisieren und einen gemütlichen Tag zu verbringen. Mein Vorgänger hat hier sehr gute Arbeit geleistet. Ich muss allerdings eingestehen, dass ich selber bei diesen Anlässen nicht immer präsent sein kann. Auch darum, weil ich in einigen Vereinen engagiert bin. Aber wir wollen die Leute auch sensibilisieren und auf die Alltagsprobleme der Behinderten aufmerksam machen.
Sie sind seit Ihrem 17. Lebensjahr an den Rollstuhl gebunden. Wie kam es dazu?
Seit einem Autounfall bin ich querschnittgelähmt. Ich sass mit einem Kollegen im Auto, als es auf dem Weg von Törbel auf die Moosalp zum Unfall kam. Die Folgen waren verheerend. Erst ein paar Tage später kam ich in Nottwil wieder zu Bewusstsein.
Was war Ihr erster Gedanke?
Im ersten Moment wusste ich überhaupt nicht, was los war. Erst nach und nach wurde mir bewusst, dass ich meine Beine nicht mehr bewegen konnte. Es war ein Schock. Nicht nur für mich, sondern für mein ganzes Umfeld. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich meine Mutter am Spitalbett fragte, ob ich jetzt ein Pflegefall sei. Meine Eltern, meine drei Geschwister und Freunde waren mir ein grosser Rückhalt in dieser Zeit.
Wie haben Sie die Zeit nach dem Unfall erlebt?
Als der Unfall passierte, war ich 17-jährig, ich absolvierte eine Lehre als Automechaniker, spielte Fussball und war viel mit Kollegen und Freunden unterwegs. Und plötzlich holt dich so ein Schicksalsschlag ein und stellt dein ganzes Leben auf den Kopf. Neben dem körperlichen Leiden kommt die ganze Unsicherheit und man stellt sich unweigerlich viele Fragen: Wie geht es weiter? Kann ich überhaupt ein normales Leben führen? Was mache ich beruflich? Kann ich weiterhin daheim wohnen bleiben? Diese und andere Fragen quälten mich. Ich hatte das Gefühl, jetzt ist alles aus und vorbei.
Haben Sie auch mit dem Schicksal gehadert?
Natürlich. Ich habe mich mehrmals gefragt, warum es ausgerechnet mich getroffen hat. Ich war jung und stand voll im Leben. Aber mein Umfeld hat mir in dieser Zeit sehr geholfen. Heute muss ich sagen, dass man als junger Mensch vielleicht anders mit einem solchen Schicksalsschlag umgeht. Man ist beweglicher und hat mehr Mut, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Vor allem was die Mobilität angeht. Ich bin mit dem Rollstuhl über Hindernisse gefahren, die andere Behinderte umfahren haben. Auch die Solidarität im Dorf war beeindruckend. Trotz meiner Behinderung wurde ich unterstützt, und die Jugendlichen des Dorfes haben mich immer und überall mitgenommen.
Haben Sie Ihrem Kollegen, der das Auto gefahren hat, einen Vorwurf gemacht?
Nein, nie. Ich erinnere mich noch gut an unser erstes Telefongespräch nach dem Unfall. Er war selber noch im Spital und hat mich angerufen. Dabei haben wir die Sache geklärt. Wir waren immer zusammen unterwegs und haben viel unternommen. Für uns war bald einmal klar, dass wir Mist gebaut haben. Und wir wussten, dass wir miteinander die Sache ausbaden müssen. Mir war klar, dass er mit der Schuldfrage konfrontiert ist und nicht nur ich, sondern auch er die Konsequenzen tragen muss. Aber wir haben uns ausgesprochen und haben noch heute ein gutes Einvernehmen, auch wenn wir uns nicht mehr so oft sehen wie früher.
Sie mussten nach dem Unfall Ihre Lehre als Automechaniker abbrechen und eine Umschulung machen. Wie haben Sie sich damit arrangiert?
In Nottwil hat man mir diesbezüglich sehr viel weitergeholfen. Die Lehre als Automechaniker musste ich natürlich abbrechen, aber ich habe dann eine Lehrstelle als Maschinenzeichner bei der Scintilla in St. Niklaus bekommen. Auch daheim waren einige bauliche Anpassungen vonnöten. Wir mussten einen Treppenlift einbauen und den Vorplatz anpassen. Dadurch konnte ich in Törbel wohnhaft bleiben. Weil ich noch so jung war, war ich natürlich dankbar dafür, dass ich daheim bleiben konnte und keinen Wohnortwechsel in Betracht ziehen musste. Und obwohl ich vier Jahre lang berufshalber in Thun und Biel tätig war, wohne ich auch heute noch in Törbel.
Wie geht es Ihnen heute, 24 Jahre nach dem Unfall. Fühlen Sie sich behindert?
Nein, überhaupt nicht. Vor allem, was meine Mobilität angeht. Ich fahre Auto und komme mit dem Rollstuhl fast überallhin. Wenn ich zurückdenke, wie sich die bauliche Situation noch vor zwanzig Jahren präsentierte, dann hat sich doch einiges getan. Wenn ich heute nach Bern oder Zürich fahre, dann bin ich auf niemanden angewiesen und finde mich sehr gut zurecht. Auch in öffentlichen Lokalen oder Restaurants hat man aufgerüstet. Fast überall findet man behindertengerechte WC’s, und viele bauliche Hindernisse wie Treppen oder Absätze wurden eliminiert. Das war früher nicht so.
Wie ist es im Alltag, beim Einkaufen oder auf dem Weg zur Poststelle? Finden Sie sich gut zurecht oder müssen Sie auch mal Hilfe in Anspruch nehmen?
Das klappt im Grossen und Ganzen sehr gut. Es gibt einige wenige Geschäften, die schwer zugänglich sind, beziehungsweise nur über eine Stiege oder einen Treppenabsatz erreicht werden können. Aber da habe ich auch keine Hemmungen, Passanten anzusprechen, die mir dann helfen, die Hindernisse zu überwinden.
Ärgern Sie solche baulichen Hindernisse oder lässt Sie das kalt?
Ich glaube nicht, dass ein Architekt oder Ingenieur absichtlich bauliche Schranken einbaut, und ich unterstelle auch niemandem eine böse Absicht. Wenn man aber vor einer solchen Hürde steht und als behinderter Mensch nicht weiterkommt, macht man sich schon seine Gedanken. Wenn man einen gesunden Menschen fragt, wie viele Absätze zwischen Bahnhof und Post sind, dann kann praktisch niemand eine genaue Antwort geben. Ganz einfach darum, weil es die Leute nicht interessiert. Wenn man nie mit einer solchen Situation konfrontiert ist, dann überlegt man sich solche Sachen nicht. Als Behinderter hingegen wird man damit gezwungenermassen konfrontiert. Es wären mit einfachen Mitteln sehr viele Verbesserungen zu erreichen.
Vor allem die Parkplatzsituation ist für Sie unbefriedigend. Obwohl es viele behindertengerechte Parkplätze gibt, sind Sie oft unnötigerweise besetzt…
Mit dieser misslichen Situation müssen wir uns jeden Tag herumschlagen. Es gibt zwar genügend behindertengerechte Parkplätze– in Einkaufszentren, Bahnhöfen oder vor Restaurants. Aber viele dieser Parkplätze werden von nicht behinderten Menschen belegt. Damit habe ich schon meine Mühe. Viele Automobilisten parken einfach gedankenlos auf Behindertenparkplätzen ohne sich darum zu scheren, wie der Parkplatz gekennzeichnet ist und ob er gebraucht wird. Das ist eigentlich nichts anderes als reine Bequemlichkeit. Wenn jetzt ein behinderter Mensch just in diesem Augenblick vorfährt, dann hat er ein Problem. Die Behindertenparkplätze sind ja nicht ohne Grund einfach so gekennzeichnet, sondern sind bewusst so breit gewählt, dass man einen Rollstuhl aus- und einladen kann. Hier erwarte ich mehr Toleranz und vor allem Rücksicht. Es geht nicht darum, dass wir näher beim Ausgang parkieren und einsteigen können, sondern darum, dass wir mehr Platz brauchen.
«Viele Behindertenparkplätze werden einfach besetzt»
Müsste man hier rigoroser gegen solche Parksünder vorgehen?
Ich glaube kaum, dass man mit Bussen dagegen angehen kann. Es ist hier einfach der gesunde Menschenverstand gefragt. Ein Behindertenparkplatz sollte nicht unnötig versperrt werden. Basta. Auch nicht für ein paar Minuten. Ich finde es respektlos gegenüber einem behinderten Menschen, wenn ein Nichtbehinderter einen Behindertenparkplatz für sich beansprucht. Das ist eine reine Charaktersache. Und wenn sich das jedermann in Erinnerung ruft, dann bleiben die Behindertenparkplätze offen für jene, die wirklich Anspruch darauf haben.
Die baulichen Barrieren sind das eine, die Schranken im Kopf das andere. Wie begegnen Ihnen die Leute auf der Strasse?
Eigentlich immer hilfsbereit und zugänglich. Natürlich gibt es einige Passanten, die Hemmungen haben, anderen fehlt vielleicht der Mut, mich anzusprechen oder mir zu helfen. Wenn aber die Initiative von mir ausgeht, dann sind die Leute immer hilfsbereit.
Mit Mitleid oder Berührungsängsten können Sie nicht viel anfangen?
Nein. Mitleid bringt mich nicht weiter. Wenn ich Hilfe in Anspruch nehmen möchte, dann sage ich das genauso, wie wenn ich keine Hilfe brauche. Das ist auch so zu akzeptieren.
Sie haben es angesprochen. Sie sind ein sehr aktiver Vereinsmensch und engagieren sich beim Jäger- und Naturfreundechor genauso wie bei den Moosalp Highlands…
… und beim Kirchenchor Törbel. Ich bin tatsächlich recht gut ausgelastet. Vor allem die Vereinsproben nehmen viel Zeit in Anspruch. Aber ich mache es sehr gerne. Ich singe vor allem sehr gerne und bin gerne unter Menschen. Ich bin ein ausgesprochener Vereinsmensch. Bei den Moosalp Highlands spiele ich Dudelsack. Der Verein ist aus einer Bierlaune heraus entstanden. Und heute nehmen wir an verschiedenen regionalen, aber auch ausserkantonalen Anlässen teil. Sogar im Fürstentum Liechtenstein sind wir schon aufgetreten. Zudem bin ich ein leidenschaftlicher Autofahrer. Zusammen mit meinen Kollegen, die auch im Rollstuhl sitzen, fahre ich regelmässig auf dem Nürburgring oder auf anderen Strecken in Europa und fröne meiner Leidenschaft.
Walter Bellwald
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