Kolumne | Diese Woche zum Thema:

Nietzsche lesen, um die heutige Misere zu verstehen

Peter Bodenmann und Oskar Freysinger schreiben in der Rhonezeitung.
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Peter Bodenmann und Oskar Freysinger schreiben in der Rhonezeitung.
Foto: Mengis Media

Quelle: RZ 0

Der ehemalige SP-Schweiz-Präsident und Hotelier Peter Bodenmann und Alt-Staatsrat und Schriftsteller Oskar Freysinger im Wortgefecht.

Peter Bodenmann, ehemaliger SP-Schweiz-Präsident und Hotelier

Gott ist tot. Vielleicht. Briger SVP-Gemeinderat ist tot. Todsicher.

Die Bibel ist das Buch der Bücher. Jeder findet in der Bibel, was er sucht. Für die Befreiungstheologen beginnt die Gerechtigkeit auf Erden. Für die Evangeliker und Bolsenaro rechtfertigt die Bibel Militarismus und Faschismus.

Vergleichbar ergeht es Karl Marx und Friedrich Engels. Marx war für die Abschaffung des Staates im Kommunismus. Die Chinesen schaffen den perfekten Überwachungsstaat. Und berufen sich dabei auf Marx und Engels.

Für die deutschen Nazis war Friedrich Nietzsche ihr National-Vordenker. Andere glauben, dass Nietzsche genau genommen gar kein Vorläufer der Nationalsozialisten war. Freysinger stellt die Frage: Was lehrt uns Nietzsche? Meine Antwort: Wir gehen Nietzsche und seinem Übermenschen mit Vorteil nicht auf den Leim.

Wir haben andere Sorgen. Die Gletscher schmelzen rasend schnell. Die Hänge ob Randa kommen ins Rutschen. Der Bosch-Konzern, der in die Scintilla investiert, wird 2020 klimaneutral sein. Für Staatsrat ­Roberto Schmidt soll das Wallis erst 2060 so weit sein. Dann sind unsere Gletscher weg.

Für Nietsche galt: Gott ist tot. In Brig-Glis gilt: Der Gemeinderat ist mausetot. Alle Macht liegt bei der Verwaltung.

Eduard Brogli weigert sich seit zwei Jahren festzustellen, wer in 800 real nicht existierenden Zweitwohnungen in Brig-Glis wohnt. Rechtswidrig. Obwohl ich ihn vor zwei Jahren auf diesen Missstand hingewiesen habe. Das Resultat auf der Homepage des Bundes:

Die Zahl der bestehenden Zweitwohnungen und die Zahl der Zweitwohnungen, die man noch erstellen kann, muss zwingend bei der Anpassung der Zonenpläne in den Dichtewert der Gemeinde einfliessen. Und dieser Dichtewert ist entscheidend, ob überhaupt ausgezont werden muss. Brig-Glis hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Wenn der Gemeinderat erwacht und über die Bücher geht, muss nichts aus­gezont werden. Um das eigene Versagen zu vertuschen, verweigert die Gemeinde die Akteneinsicht in die Planungsunterlagen und das Baudeponie-Register, in dem die Parzelle Ursprung fehlt. Typisch SVP.

In vielen Oberwalliser Gemeinden herrscht deshalb helle Aufregung. Wenn das SVP-Duo Ursprung und Hildbrand mit seinem Auszonungs-Pilotprojekt durchkommt, hat dies negative Auswirkungen auf alle ­anderen Gemeinden. Und auf Tausende von Oberwalliser Familien, deren Terrains rechtswidrig aus­gezont würden.


Oskar Freysinger, ehemaliger SVP-Staatsrat und Schriftsteller

Taube Ohren

Zuerst möchte ich meinem wöchentlichen Kontrahenten dafür danken, dass er die 60 Jahre, die ich nächstes Jahr feiern werde, als «zartes Alter» bezeichnet. Wann wird er selbst offen und ehrlich zum Deal stehen, der ihn bewog, im zärtesten Alter von
47 Jahren nach nur zwei Jahren die Regierung zu verlassen? Nun zu Nietzsche:

Ein weitsichtiger Mensch, dieser Philosoph, ein Prophet. Nicht ­wegen des «Übermenschen», der politisch so oft missverstanden und missbraucht wurde. Nein, wegen des «letzten Menschen», den er in seinem «Zarathustra» ebenfalls skizziert.

«Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann», schreibt er 1883. «Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. (…) Der letzte Mensch lebt am längsten. Krankwerden und Misstrauen-haben gilt als sündhaft: man geht achtsam einher (…). Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. (…) Man liebt noch den Nachbarn und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung (…). Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus. Man ist klug und weiss alles, was geschehen ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald (…). Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. ‹Wir haben das Glück erfunden›, sagen die letzten Menschen und blinzeln.»

Beim Lesen dieser Zeilen habe ich den Eindruck, es mit einem die heutige Zeit kritisch durchleuchtenden Zeitgenossen zu tun zu haben. Alles ist in nucleo schon da, im Programm des sich göttlich amüsierenden letzten Menschen: Oberflächlichkeit und Unterhaltungssucht, Gesundheitswahn und Egalitarismus, Euthanasie und Drogensucht, Richtungslosigkeit und Globalisierung, Bildungsdünkel und Zynismus, Pathologisierung der kritischen Geister und Verwechslung von Glück und Komfort.

Wer ist da noch fähig, «den Pfeil der Sehnsucht über den Menschen hinauszuwerfen»? Wer «gebärt noch einen tanzenden Stern»? «Die Wüste wächst in uns» und wir wursteln weiter an schalen Kompromissen, suhlen uns in billigen Lüsten und Wahnvorstellungen und kommen uns als Weltenretter vor.

Es gibt immer noch kein Ohr für Nietzsches Mund.

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