Ried-Brig/Bern | Einzigartiges Phänomen
Synästhesie: Eine ganz besondere Form der Wahrnehmung
Während viele Menschen ihren Alltag eher grau oder farblos empfinden, fühlen sich Synästhetiker in einer bunten Welt zu Hause.
Der Montag ist blau, der Dienstag rot und der Mittwoch erscheint grün. Was sich wie eine Farbtabelle liest, ist für Synästhetiker (steht für Sinnesverknüpfung oder Reizverbindung) bunter Alltag. «Gewisse Wahrnehmungen lösen bei vielen Menschen einen bestimmten Reiz aus. Dabei werden Buchstaben oder Zahlen mit Farben verknüpft», erklärt Nicolas Rothen (37), Assistenzprofessor für Psychologie an der FernUni Schweiz.
Farbliche Komponente
Die Folge: Der Montag ist blau, die Monate erscheinen als Schlangenlinie oder die Zahl eins ist ein Kreis. «Ein bestimmtes Wort oder eine Zahl löst bei den betroffenen Menschen eine besondere Reizwahrnehmung aus. Dadurch verwandeln sich Wörter und Zahlen in Farben oder lösen das Empfinden räumlicher Anordnungen aus», sagt Rothen. Aber auch in der Musik kommt die sogenannte Ton-Farb-Synästhesie vor. Dabei verwandeln sich Töne in Farben. Woher dieses Phänomen genau kommt, darüber rätselt die Wissenschaft bis heute. «Man geht davon aus, dass eine genetische Komponente beteiligt ist und die meisten betroffenen Menschen mit dieser Veranlagung auf die Welt kommen», sagt Rothen. Rund fünf Prozent der Weltbevölkerung – das entspricht der Einwohnerzahl der USA im Verhältnis zur Weltbevölkerung – sind Synästhetiker. «Wir stellen fest, dass vor allem im künstlerischen Bereich Menschen mit diesen Erlebnissen tätig sind», so Rothen. Ob das in Zusammenhang mit der Kreativität steht, lässt der Assistenzprofessor offen. «Noch ist die Forschung nicht so weit, um diese Frage schlüssig zu beantworten», präzisiert Rothen.
Signalwirkung aufs Gehirn
Während früher viele Menschen mit diesem Phänomen als Spinner abgetan wurden, kommt Synästhetikern heute eine besondere Bedeutung zu. «Die psychologischen und individuellen Unterschiede dieser Personen gewinnen mehr und mehr an Bedeutung», weiss Rothen. Das habe mitunter damit zu tun, dass sowohl an Schulen wie auch im Alltag dieses Phänomen immer bekannter wird. «Zudem», so Rothen, «trägt auch die Medienarbeit viel zur Aufklärung bei.» Wie sich Synästhesie im Alltag auswirkt, ist umstritten. «Die Wissenschaft geht davon aus, dass sich diese Wahrnehmung positiv auf das Gedächtnis auswirkt. Das hat zur Folge, dass sich Synästhetiker bestimmte Objekte besser merken können», sagt Rothen. Im Klartext: Die Farben haben eine Signalwirkung auf das Gehirn und helfen den Betroffenen, sich besser zu orientieren. «Es ist vergleichbar mit einer Lernhilfe», erklärt Rothen.
Wenn süss zu salzig wird
Für Nicolas Rothen, der in Bern doktorierte und in England einen fünfjährigen Forschungsaufenthalt machte, ist die Synästhesie «ein Instrument um zu sehen, wie sich individuelle Unterschiede in der Wahrnehmung auf geistige Funktionen auswirken». Nach Rothen stelle die Forschung gewisse Veränderungen fest. «Jeder geht davon aus, dass alle die Welt mit ihren Sinnen gleich wahrnehmen. Die Realität sieht aber anders aus.» Auch in der Synästhesie selbst zeigen sich Abweichungen. So verbindet der Präsident der englischen Synästhesie-Gesellschaft einzelne Wörter mit verschiedenen Geschmackseindrücken. «Das geht so weit, dass er Wörter mit süss, salzig oder sauer in Verbindung bringt. Wenn er dann das Dessert isst und sein Gegenüber erzählt etwas, das er mit salzig in Verbindung bringt, dann schmeckt das Dessert salzig statt süss. Diese Kontraste sind schwer miteinander vereinbar», so Rothen.
Walter Bellwald
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